Samstagskolumne Peter J. König 23.11.2013

Warum zeugt die Entscheidung der Grünen in Wiesbaden von mehr Mut, als die ihrer Parteifreunde in Berlin?

In Hessen wird beginnen, was dereinst in der Hauptstadt vollendet werden soll. Ministerpräsident Volker Bouffier und Grünen-Chef Tarik Al-Wazir haben nach einer Periode unterschiedlicher Verhandlungen im Laufe der letzten Woche sich entschlossen, Koalitionsverhandlungen zu führen. Nachdem auch die entscheidenden Parteigremien ihr Placet dazu gegeben haben, scheint der Weg frei für die erste Schwarz-Grüne Koalition in einem Flächenland in der Bundesrepublik Deutschland. Wenn es so kommen wird, und dies steht bekanntlich erst mit den Unterschriften unter dem besagten Vertrag fest, ist dies ein Novum in unserer politischen Landschaft, bedeutet aber auch, dass ein neuer Abschnitt im Gefüge von möglichen Regierungsbildungen beginnt. Zwar hat es in Hamburg schon einmal einen ähnlichen Versuch gegeben, dieser aber war nicht von allzu großer Dauer. Schon in den parallel laufenden Sondierungsgesprächen nach der Bundestagswahl in Berlin blitzte kurze Zeit die Möglichkeit einer Schwarz-Grünen Regierung auf. 

Mancher in beiden Lagern hätte durchaus darin eine charmante Lösung gesehen, doch nach offizieller Lesart war ein solches Bündnis noch nicht reif. Fakt ist jedoch, dass die Grünen, trotz eines gesteigerten Interesses, besonders bei ihren Führungsspitzen, bei dem schwachen Abschneiden in der Wahl und einem verkorksten Wahlkampf, nicht den Mut aufbrachten, eine solche neuartige Konstellation einzugehen. Zu groß war die Angst von Angela Merkel vereinnahmt oder gar erdrückt zu werden. Wie so etwas geht, wurde ihnen gerade am Beispiel der F.D.P. vorgeführt. Da schien ihnen das Risiko doch zu groß. Wer weiß wie die Sache ausgesehen hätte, wenn man mit sattem Zugewinn eine strahlende Braut für die Schwarzen gewesen wäre? So aber zu viel Enttäuschung und Depression über das eigene Abschneiden, als dass man sich mit den Christsozialen in einer Liaison verbandeln konnte. Doch bekanntlich ist ja aufgeschoben nicht gleich aufgehoben. Welche wunderbare Gelegenheit bietet da ein Bündnis auf Landesebene. Im Sinne einer künftigen gemeinsamen Bundesregierung ist die Entscheidung in Hessen als eine Art Verlobungszeit zu sehen. Hier kann Vertrauen aufgebaut, Glaubwürdigkeit und Regierungshandeln getestet werden, ohne dass im Falle eines Scheiterns gleich die ganze Nation in Mitleidenschaft gezogen wird. Aber Scheitern steht bei den beiden Koalitionären nicht auf der Agenda. Beide sind sehr zuversichtlich, obwohl sie genau wissen, wo ihre Knackpunkte liegen könnten. 

Nicht zuletzt sei da der Frankfurter Flughafen genannt in Bezug auf Lärmschutz, Ausbau und Ökologie. Zunächst hat man sich auf ergebnisoffene Verhandlungen im Zuge der Koalitionsgespräche verständigt, die Problematik soll sich an Hand neuester Gutachten orientieren. Dies konnte die hessische SPD nicht ungerührt lassen, sah es doch zwischenzeitlich einmal so aus, als habe sich Ministerpräsident Bouffier mit seinem sozial-demokratischen Herausforderer Schäfer-Gümbel darauf geeinigt, alle Wahlkampfattacken vergessen zu machen, um nach vorne schauend, die Chancen für eine große Koalition auch in Hessen zu verwirklichen. Zudem wird sich Schäfer-Gümbel ausgerechnet haben, dass nach einer Legislatur als stellvertretender Ministerpräsident nicht nur sein politisches Gewicht und sein Bekanntheitsgrad gewachsen sind, sondern er auch bessere Chancen auf den Posten des Ministerpräsidenten bei der nächsten Wahl haben würde, zumal in der CDU altersbedingt ein Wechsel an der Führungsspitze in Hessen anstehen könnte. Auch muss ihm klar geworden sein, dass mit einer Schwarz-Grünen Regierung in Wiesbaden für einen längeren Zeitraum ein Regieren im Land in weite Ferne gerückt ist, wenn sich das Bündnis als stabil herausstellen sollte.

Und was könnte passieren, wenn man, ausgelöst durch das hessische Modell, auf Bundesebene Appetit auf mehr bekommen würde? Damit einhergehend, was passiert eigentlich, wenn der ausgehandelte Koalitionsvertrag zwischen CDU und SPD in Berlin vor den Augen der sozial-demokratischen Basis keine Gnade findet? Dies wird überhaupt die spannendste politische Frage in dieser Woche werden. Bisher liegt noch alles im Ungewissen. Aus den Kreis- und Ortsverbänden regt sich massiver Widerstand gegen ein solches Bündnis. Die SPD-Parteispitze, allen voran der Vorsitzende Sigmar Gabriel, reist von einer Veranstaltung zur nächsten, um die Genossen zur Zustimmung zu bewegen. Bisher mit mäßigem Erfolg. Dabei geht es auch um seine Haut, denn im Falle einer Ablehnung kann die gesamte Vorstandsebene abdanken, zu groß wäre der Vertrauensverlust. Und mitten hinein in diesen unerfreulichen Schwebezustand platzt auch noch das angedachte Bündnis in Hessen. Die vermeintlichen Koalitionsgetreuen von den Grünen gehen von der Fahne und legen sich mit den Schwarzen ins Bett. 

Derweil läuft die SPD Gefahr durch falsches taktisches Manövrieren, und nur so muss man die Befragung der Basis werten, sich selbst zu eliminieren, zumindest sich selbst großen Schaden zuzufügen. Zu allem Überfluss haben sie auch noch die Öffnung zu den Linken beschlossen. Zum jetzigen Zeitpunkt war dies nicht nur ebenfalls taktisch unklug sondern auch völlig überflüssig. Damit haben sie erneut das Szenario angefacht, zwar jetzt eine Koalition mit der CDU einzugehen, aber auf halbem Wege dann doch aufzukündigen, um einen Schwenk nach links zu machen. Seitdem liegt ein gewisses Misstrauen über den Verhandlungen, es zwickt und zwackt an allen Enden und dies vor der Kulisse eines drohenden Zustimmungsverlustes. Die SPD hat wahrlich schon bessere Zeiten erlebt. Doch damit nicht genug. 

Sollte es gar knüppeldick für die altehrwürdige sozial-demokratische Partei kommen, müsste sie mit dem Allerschlimmsten rechnen. Führungslos müsste sie zusehen, wie sie sich spaltet, indem der linke Flügel sich zu den Linken aufmacht, während der gemäßigte Teil die Zukunft bei den Grünen sucht. Viele aus dem rechten Flügel zieht es dann zu Angela Merkel, die sie auch schon bisher als Kanzlerin recht passabel fanden. Und was bleibt zum Schluss übrig von der 150.jährigen Geschichte: ein gerupftes Huhn mit arg gestutzten Flügeln, unfähig noch einmal sich in die Lüfte zu schwingen, um den sozialen Traum zu verwirklichen. Welch eine Aussicht und dies auch noch bei sinkenden Mitgliederzahlen und abstürzenden Wahlergebnissen. Dabei sah am Anfang alles so schön aus. Zwar hatte man die Wahl verloren, aber ob des Wahlergebnisses, welch eine Genugtuung die Schwarzen vor sich herzutreiben. Gabriel und seine Genossen konnten vor Kraft kaum laufen, sie glaubten tatsächlich Angela Merkel in die Enge getrieben zu haben. Und einmal wieder bewahrheitet sich das alte Sprichwort: Jeder Höhenflug ist vom Absturz bedroht, wie einst, als Ikarus glaubte der Sonne zu nahe kommen zu können. 

Vielleicht geht dieser Kelch durch eine gehörige Portion Glück an der Sozialdemokratie noch einmal vorüber, wenn die Zugeständnisse seitens der CDU/CSU so großzügig gestaltet werden, dass selbst die größten Kritiker innerhalb der SPD, Züge ihres Wahlprogrammes in dem ausgehandelten Koalitionspapier zu erkennen glauben. Vielleicht klappt es ja auch nicht zwischen Schwarz und Grün hinsichtlich höherer Ziele. Alles kann, nichts muss. Politik ist ein wages Geschäft, voll von Fallstricken und Tretminen und immer wieder für eine neue Schlagzeile gut. Deshalb hat es auch nicht überrascht zu lesen, dass der Hessen-Grüne Al-Wazir, erst nachdem Joschka Fischer ihm getwittert hatte, er schaffe das schon mit der Schwarz-Grünen Koalition, eine solche Entscheidung öffentlich gemacht hat. 

 Peter J. König

Samstagskolumne Peter J. König 16.11.2013

Wird die altehrwürdige SPD die Koalitionsverhandlungen überleben oder wird ihr aktueller Vorstand dran zerbrechen? 

Wenn man die großen Koalitionsrunden sieht, die alle paar Tage zusammenkommen, um zwischen CDU, SPD und CSU zu beraten, ob man gewillt ist, gemeinsam die Regierungsverantwortung zu übernehmen, kann man schon verwundert ins Grübeln kommen, wie so etwas überhaupt funktionieren soll. Da wandern ganze Busladungen von gewichtigen Politikern der drei Koalitionswilligen hin zum Verhandlungsort, und haben sie alle erst einmal Platz genommen, dann erkennt man das Gegenüber in dieser weitläufigen Halle nur noch schemenhaft. Wie muss man sich das vorstellen, wenn eine bestimmte Thematik diskutiert wird? Werden da alle Anwesenden gehört, einzeln oder alle gleichzeitig oder reden da nur die Parteivorsitzenden und alle anderen nicken geflissentlich? Weshalb aber diese Armada der anderen Parteioberen, die einem Rudel gleich, ihren Anführern Rückendeckung signalisieren. Dabei ist der Einmarsch der Gladiatoren signifikant für jede einzelne Delegation. 

Die Kanzlerin schreitet oder besser gesagt trippelt ihrem Parteigefolge selbstbewusst voran, hier ist ganz klar zu erkennen, wer die Hosen an hat. Bei der CSU wirkt das Ganze fast imperial, wenn Seehofer nahezu in der Attitude eines Alleinherrschers, gemessenen Schrittes einher schreitet, immer das gesetzte Ziel des eigenen Machtanspruches vor Augen, während die Staffage, seine auserkorenen Günstlinge sich eher als Dekoration ausmachen. Ja, im Land der Bayern hat die Hierarchie noch seine traditionelle Bedeutung. Wie verstört kommt dagegen die alte Tante SPD daher. Alles ähnelt eher einem unkoordinierten Haufen. Um es vorweg zu nehmen, in der nächsten Woche wird dieses Bild des Aufmarsches ein noch viel kläglicheres, nach den Erfahrungen auf dem Parteitag in Leipzig am letzten Donnerstag und Freitag. Fast wäre es hier schon zu einem Eklat gekommen, als bei den Vorstandswahlen, die Landesvorsitzenden bei der Wiederwahl zum Parteivorstand der Bundespartei diese reihenweise beim ersten Wahlgang von der Basis ab gewatscht worden sind und die nötigen Stimmenzahlen verfehlt haben. 

Erst nachdem der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel die Delegierten um Geschlossenheit gebeten hatte, um so die Handlungsfähigkeit sicher zu stellen, wurden die Landesfürsten mit Ach und Krach soeben in ihre Ämter zurück gehievt. Was ist da los mit den Sozialdemokraten, die jetzt immerhin auf eine 150jährige Geschichte zurück blicken können? Klar ist, dass die Kluft zwischen Parteibasis und Parteiführung noch nie so groß war wie zurzeit. Damit ist aber auch klar, dass für viele in den Orts- und Kreisverbänden eine Große Koalition, so wie es die Granden propagieren, nahezu unvorstellbar ist. Sie alle haben noch den enormen Stimmenverlust von weit mehr als 10% nach der letzten Großen Koalition im Hinterkopf, als Angela Merkel, nachdem sich Schröder notgedrungen zurückziehen musste, mit Walter Steinmeier eine gemeinsame Regierung zustande gebracht hatte. Trotz einer vernünftigen gemeinsamen Arbeit in dieser Koalition, war es die Kanzlerin, die bei der anschließenden Bundestagswahl die Lorbeeren für die Bewältigung der Banken- und Finanzkrise einheimsen konnte.

Anstatt Anerkennung haben die Sozialdemokraten eine krachende Niederlage hinnehmen müssen, das Ende als Volkspartei schien nicht mehr weit zu sein. So etwas steckt bei vielen noch in den Knochen, sie befürchten das Schlimmste nach einer erneuten Regierung mit Merkel. Nach der darauf folgenden miserablen schwarz-gelben Koalition hatten sie gehofft, mit Steinbrück jetzt endlich wieder einmal den Kanzler zu stellen, aber erneut ging der Schuss nach hinten los, mit dem Ergebnis von weiteren Stimmenverlusten. Während all dieser Zeit hat Angela Merkel an Zustimmung bei den Deutschen gewonnen, der Stimmenzuwachs für die CDU auf über 40% geht allein auf ihr Konto. Ähnlich wie bei der vorletzten Wahl es die SPD getroffen hatte, wurde im September die F.D.P. gerupft, nur dass die Gelben danach von der Bildfläche verschwunden sind, kein Wiedereinzug in den Bundestag und in Hessen soeben knappe 5%, welcher Reibungsverlust an der Teflon-Kanzlerin. 

So etwas will die SPD-Basis auf keinen Fall erleben, bei diesem Gedanken befällt sie die schiere Panik. Dazu kommt der gesellschaftliche Umbruch durch die Globalisierung und die Wirtschaftskrise in einigen südlichen EU-Ländern mit Hunderten von Milliarden Staatshilfen, wobei nicht feststeht, wie weit Deutschland damit belastet wird. Und bei dieser Gemengelage soll die SPD noch den Mehrheitsbeschaffer für die Christsozialen geben. Dies scheint so manches überzeugte SPD-Mitglied einfach nicht mehr verkraften zu wollen. Und doch drängt die Parteispitze in die Regierungsverantwortung und versucht dies mit Kontrollfunktionen zu erläutern, nach dem Motto: wenn wir schon nicht die Führung in der Regierung stellen können, dann müssen wir wenigstens die Schwarzen überwachen und so dafür sorgen, dass möglichst viel von unserem Wahlprogramm in diese Koalition eingebracht werden kann. 

Als Drohkulisse hat man noch, zwecks Eigenstärkung, auf dem Parteitag beschlossen, zukünftig ein Bündnis mit den Linken grundsätzlich nicht mehr auszuschließen, so wie man dies bei der letzten Wahl noch kategorisch getan hatte. Um aber keinen Parteiaufstand mit selbstzerfleischenden Flügelkämpfen zu riskieren, sind Gabriel, Nahles und Co auf die Idee gekommen, das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen durch eine Mitgliederbefragung bestätigen zu lassen. Taktisch ist dies gegenüber den beiden anderen Parteien nicht unklug, denn mit dem Argument der Befragung lässt sich sowohl drohen, als auch locken. Trotzdem birgt diese Konstellation ein gewaltiges Risiko, doch dessen glaubte die Führungsspitze gewachsen zu sein. Man vertraute auf die Gefolgschaft der Basis und war sich sicher, ein positives Votum von ihnen zu bekommen. Dieser Traum endete jäh durch die Vorstandswahlen, denn mit den verpatzten Wahlen war blitzartig klar, dass diese Mitgliederbefragung kein Selbstläufer sein wird. Seitdem geht Angst und Verunsicherung durch die Reihen der Vorstände. Was kann passieren?

Anstatt schon staatstragend als Bundesminister am Tisch der Kanzlerin zu sitzen, kann es durchaus sein, dass sie nur noch ihren Rücktritt von ihren hohen Parteiämter erklären dürfen, wenn die Basis glaubt, ihre Zustimmung zu einem ausgehandelten Koalitionspapier verweigern zu müssen. Diese Brisanz ist mittlerweile allen in der SPD klar. Die da oben spüren, dass sie auf trügerischem Boden stehen und die da unten registrieren, dass sie plötzlich unverhoffte Macht, aber auch Verantwortung bekommen haben. Dabei schien der Winkelzug mit der Befragung so genial. Zusätzliche Verhandlungsmasse ohne großes Risiko glaubte man gewonnen zu haben, und nun das. Wie anfangs erwähnt, hat der Auftritt der SPD-Kader schon bisher nicht den Eindruck erweckt, außer einem Platz auf Augenhöhe gegenüber Angela Merkel steht überhaupt nichts zur Debatte. 

Nach diesem Wochenende wird neben der Ernüchterung auch noch eine gehörige Portion Selbstzweifel auf Seiten der SPD die Verhandlungen begleiten, nicht unbedingt eine Stärkung für das Selbstbewusstsein der Akteure. Es wird spannend sein zu beobachten, welchen Verlauf die Koalitionsgespräche nächste Woche nehmen werden und dies hängt nicht nur von den Roten ab. In erster Linie ist es Sache von Merkel und Seehofer, ob sie unbedingt diese große Koalition wollen. Dann werden sie Zugeständnisse machen müssen, damit die SPD-Basis die Kröten schlucken kann, die ihnen ihre Parteiführung vorsetzt. Sollten allerdings die Damen und Herren der Führungselite die Verhandlungen platzen lassen, auch nur um sicher zu gehen, nicht plötzlich ohne hohes Funktionärsamt dazustehen, dann brauchen sie über eine Regierungsbeteiligung nach einer sofortigen Neuwahl nicht mehr nachzudenken. Während sie einen weiteren Stimmenschwund betrauern, können sie zuschauen, wie Angela Merkel als absolute Herrscherin im politischen Berlin die Zügel führt oder wenn es dazu nicht gereicht hat, wie sie sich die Afd, die Alternative für Deutschland zu Recht stutzt, ihr neuer Kandidat, der für den Machterhalt herhalten muss. 

Peter J. König

Samstagskolumne Peter J. König 09.11.2013

Zum fünfundsiebzigsten Mal jährt sich der Pogrom vom 9. November 1938. Haben die Deutschen, hat der Rest der Welt etwas daraus gelernt? 

Heute ist ein denkwürdiger und ein trauriger Tag zugleich. Vor genau 75 Jahren, am 9. November 1938 haben die Deutschen gezeigt zu welchen Verbrechen sie fähig waren, als stellvertretend für alle, die Schlägertrupps und Mordbuben der SA die Jüdischen Synagogen in Brand gesteckt, die von Juden betriebenen Geschäfte und Firmen überfallen, verwüstet und beraubt haben. Die jüdischen Menschen wurden zusammen getrieben, oftmals die Alten, die sich nicht vorstellen wollten, dass selbst das Nazi-Deutschland zu solchen Verbrechen nicht fähig sein würde. Viele von ihnen hatten im Ersten Weltkrieg diesem Land mit dem Einsatz ihres Lebens gedient, viele sind dafür ausgezeichnet worden, viele ihrer jüdischen Freunde hat es das Leben gekostet. Und nun wurden sie aus ihren Häusern getrieben, oftmals unter dem Gejohle des aufgestachelten Mobs, verprügelt, gedemütigt und aufs Schändlichste misshandelt, auch getötet. Dies geschah deutschlandweit flächendeckend.

Danach wurden sie in Lager verschleppt, ihre Habe wurde konfisziert, der Holocaust, die Vernichtung des Judentums auf nationalsozialistischem Herrschaftsgebiet hatte begonnen. Dies galt auch für Österreich, nachdem zuvor ja der "Anschluss an das Deutsche Reich", so der offizielle Sprachjargon, bereits stattgefunden hatte. Was war los mit dem Volk der Dichter und Denker, warum haben sich die Deutschen nicht dagegen gewehrt? 

Wie alte Wochenschauaufnahmen beweisen, hat die Bevölkerung tatenlos zugesehen, es ging eher darum einen guten Platz zu erwischen, um dem kriminellen Spektakel zuzuschauen. Weder die örtliche Polizei, noch die Feuerwehren machten Anstalten die mordbrennenden SA-Schergen aufzuhalten oder vielleicht die Brände einzudämmen. Löscharbeiten wurden nur dort unternommen, wo Gefahr bestand, dass das Feuer auf angrenzende nichtjüdische Häuser übergreifen könnte. Keiner kam den langjährigen Nachbarn zur Hilfe, als die Menschen jüdischen Glaubens wie Vieh auf die Sammelplätze getrieben wurden, von sogenannten "Gesinnungsdeutschen", die in bester Absicht das deutsche Volk von der "Judenpest" befreien wollten, so die Propaganda des Volksverhetzers Goebbels. Dass es sich bei diesen SA-Trupps oft um verblendete, gescheiterte und brutalisierte Versager in der Gesellschaft, oder aber aufstiegsgeile, machtgierige und dazu gewissenlose Parteikarrieristen handelte, zeigt wer 1938 das Sagen in Deutschland hatte. 

Der Rechtsstaat war untergegangen, Justiz und Verwaltung waren gleichgeschaltet und dienten einzig und alleine dazu Adolf Hitler und den Seinen willfährig zu sein. Aus dem demokratischen Deutschland der Weimarer Republik war eine menschenverachtende Diktatur geworden und dies in einigen wenigen Jahren. Die Juden wurden zu dem Synonym des Bösen stilisiert, sie wurden für die wirtschaftliche Misere nach 1928, für die riesigen Reparationszahlungen nach dem ersten Weltkrieg, gar für dessen Niederlage verantwortlich gemacht. Die Judenhetze war allgegenwärtig und die "Ausrottung" beschlossene Sache. Dabei haben die jüdischen Mitbürger und dabei handelte es sich nicht wie die Nazis vorgelogen haben, um ein eigenes ethnisches Volk sondern um eine Glaubensgemeinschaft, so wie Christen oder Muslime, also Deutsche wie jeder andere Bürger im preußischen Staat, nachweislich besonders viel geleistet für das deutsche Volk, sei es in der Wissenschaft, in der Wirtschaft oder aber auch in Politik, Gesellschaft und Kultur. 

Tief im Bürgertum verankert, waren es gerade die Menschen jüdischen Glaubens, die die gesellschaftliche Bildung vorantrieben. Die Nazis haben daraus die Verschwörung gegen das deutsche Volk durch die Juden gemacht, genauer gesagt durch die internationalen Zionisten. Doch genau das Gegenteil hat stattgefunden, Hitler hat sich des Staates und des Volkes bemächtigt, hat Millionen von Menschen umbringen lassen, neben Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, politisch Andersdenkende, Behinderte, Zwangsarbeiter und viele mehr. 

Durch die Kriegsüberfälle in ganz Europa starben weitere Millionen, sei es in Kampfhandlungen oder aber auch, dass man Kriegsgefangene systematisch verhungern ließ. Mit dem Gedanken der Judenvernichtung, dem Holocaust und der Pogromnacht, in diesem Augenblick, da der Schreiber dieser Zeilen diesen Text fixiert vor exakt 75 Jahren, nahm dieser verheerende Geschichtsverlauf seinen aktiven Anfang. Die Deutschen haben, wenn sie nicht aktiv beteiligt waren, doch duckmäuserisch zugesehen und geschwiegen. Sie haben zugelassen, dass sie selbst in den Zustand der Verrohung abgeglitten sind, sie haben zugelassen, dass sie nicht nur von dem schlimmsten Verbrecher der Geschichte beherrscht wurden, sondern auch die schlimmsten Verbrechen in ihrem Namen an der Menschheit verübt worden sind. 

Dieses gilt es niemals zu vergessen, deshalb ist der heutige Tag ein so wichtiges Datum. Es ist aber auch der richtige Zeitpunkt, sich der Menschen zu erinnern, bei denen  die Deutschen als Volk sich große Schuld aufgeladen haben. Das Rad der Geschichte kann niemals zurück gedreht werden, insofern wird es immer bei dieser Schuld bleiben. Aber wir können auf verschiedene Weise Abbitte leisten. Dazu gehört die aufrichtige Entschuldigung, die nur durch die eindeutige geschichtliche Aufarbeitung geleistet werden kann. Jegliches Leugnen und Verdrängen muss tabu sein. Dies gilt speziell für die heutigen und zukünftigen Generationen, wobei wir aus der Geschichte unmittelbar in die aktuelle Realität herüber kommen. 

In Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern, wie z.B.in Ungarn ist wieder verstärkt Antisemitismus festzustellen. Noch immer zeigen die alten Nazihetzparolen Wirkung und es ist der gleiche Humus, auf dem sie erneut sprießen. Wirtschaftliche Probleme, Bildungsmangel und Ausländerfeindlichkeit sind nur einige Gründe weshalb die gefährlichen faschistoiden Ideen neuen Zulauf bekommen. Deshalb ist es dringend geboten, sowohl seitens des Staates, aber noch mehr seitens einer couragierten Bevölkerung diesem Aufflammen von Faschismus zu begegnen. Dabei hilft besonders das Erinnern und der Wille nicht noch einmal so etwas zuzulassen, was am 9. November 1938 schreckliche Wirklichkeit geworden ist. 

Bei aller Trauer und dem Erinnern an die dunkelste Seite der deutschen Geschichte muss aber auch erwähnt werden, dass der 9. November als Tag auch etwas sehr Glückliches für die Deutschen gebracht hat. Am 9. November 1989 war mit der Öffnung der Berliner Mauer der Zeitpunkt gekommen, den Zustand der deutschen Teilung zu überwinden, aus zwei Staaten wieder ein vereintes Deutschland zu machen. Trotz allen gelegentlichen Unkens ist dies ein glückliches Ereignis in der jüngeren deutschen Geschichte. Damit einher geht aber auch eine große Verantwortung, als stärkste Kraft in Europa politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich vorbildlich zu sein. Auch dadurch zeigen wir, dass wir aus unserer Geschichte gelernt haben, dass wir im Gegensatz zu vor 75 Jahren die Menschen nicht unterdrücken, diskriminieren oder gar töten wollen, sondern als Freunde und Partner mit unseren Nachbarn in Europa und in der ganzen Welt, die Demokratie, die Menschenrechte und ein gedeihliches Miteinander für uns oberste Priorität hat. 

Wie gesagt, wir können das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen, aber wir können neben der Entschuldigung und der Trauer die klare Botschaft hinzufügen, wir haben aus unserer Geschichte gelernt, wir werden zukünftig die Werte der Humanität mit aller Deutlichkeit verteidigen. 

Peter J. König