Samstagskolumne Peter J. König 02.07.2016

Tatsächlich war die Brexit-Kampagne eine Schlammschlacht und wirklich kein leuchtendes Beispiel für ein notwendiges Europa.

Großbritannien hat sich mit einer hauchdünnen Mehrheit entschieden, die Europäische Union zu verlassen. Jetzt, nachdem das Votum fast 2 Wochen feststeht, das Siegesgeheul der Brexit-Anhänger verklungen und allmählich der zukünftigen Realität gewichen ist, macht sich im Königreich immer mehr Katzenjammer breit. Zugleich erkennen viele Briten, dass sie falschen Parolen und verlogenen Erfolgsaussichten aufgesessen sind. 

Die lautesten Schreier für den Ausstieg, Boris Johnson und Nigel Farage haben bereits sich aus dem Prozess der Trennung von Europa verabschiedet, obwohl sie die größten Befürworter und Treiber in dieser schillernden Angelegenheit waren. Schon jetzt wird klar, dass Großbritannien in ein tiefes Loch fallen wird, politisch, wirtschaftlich und wenn alle Stricke reißen auch als Staatsgebilde insgesamt. Aber nicht nur das Vereinte Königreich ist massiv gefährdet, das fragile Gebilde Europäische Union steht vor seiner größten Bewährungsprobe, vielleicht sogar vor dem Zerfall, mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben können. 

Zwangsläufig stellt sich so die Frage: Was haben die führenden Politiker in Europa falsch gemacht, dass es zu einer solchen Entwicklung kommen konnte? Und weiter: Wie war es in vielen europäischen Staaten möglich, dass sich der Nationalismus erneut wie eine Seuche ausbreiten konnte, im Angesicht der Tatsache, dass der Zweite Weltkrieg gerade erst einmal 70 Jahre vorbei ist und dies eigentlich im Bewusstsein der Europäer verankert sein müsste? 

Anstatt vorwärts zu gehen, findet zurzeit ein Prozess des Rückschritts, der Auflösung und der totalen Verunsicherung statt, ebenso der Lügen und der Volksverdummung. All dies zu hinterfragen, ist Sinn einer solchen Kolumne. Aber der Reihe nach: 

Beginnen wir mit der Volksverdummung und beginnen wir damit in Großbritannien und der Brexit-Kampagne. Ausgelöst wurde diese Volksbefragung nicht etwa mit dem Ziel die Briten tatsächlich aus der EU aussteigen zu lassen, ausgelöst wurde das Referendum durch das Erstarken der rechtspopulistischen Ukip-Partei unter Nigel Farage, die den Unmut der unteren sozialen Schichten mit der These angeheizt haben, dass ihre schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse allein der Mitgliedschaft in der EU zu verdanken sei. Dadurch seien Hunderttausende aus osteuropäischen Mitgliedsstaaten ins Land gekommen, um hier die Arbeitsplätze wegzunehmen und die Sozialkassen zu plündern. 

Des Weiteren erklärte Farage, Chef von Ukip und mittlerweile Abgeordneter im Europäischen Parlament, jedoch ohne Sitz im Unterhaus, Großbritannien zahle weit mehr als 25 Milliarden Euro nach Brüssel und wenn dieses Geld im eigenen Land investiert würde, sei der Erfolg maximal größer. Dies war die glatte Unwahrheit, denn unter dem Strich, also nach Abzug der Subventionen aus Brüssel an das Königreich bleiben etwa 5 Milliarden übrig, die an die EU überwiesen werden, eine Summe, die gemessen an der Wirtschaftskraft Großbritanniens im Verhältnis zu anderen EU-Staaten, besonders Deutschland, geradezu gering erscheint. 

Dass dies so ist, haben die Briten Maggie Thatcher, der Eisernen Lady zu verdanken, die damals auch mit Austritt aus der EU drohte und so extreme Zahlungserleichterungen eingeräumt bekam. Es ist anzunehmen, dass Cameron, der jetzige Premier mit Verfallsdatum ähnlich spekuliert hat, als er das Referendum anberaumte, niemals davon ausgehend, dass die Briten tatsächlich sich fürs Aussteigen entscheiden. Auch sah er sich getrieben durch die Tatsache, dass bei den Europawahlen Ukip mit 28% stärkste Kraft in Großbritannien wurde und die Zustimmung für die kommenden Parlamentswahlen im Königreich sowohl für die Torys, also die Konservativen, als auch für die Labour-Partei düster aussehen würden. 

Zugleich begann Boris Johnson, der exzentrische Bürgermeister von London, ebenfalls Mitglied der Konservativen Partei sich auf die Seite der Brexit-Befürworter zu schlagen, sah er doch so die Chance seinem alten Internats-Kumpel in Eton und Studienkollege in Cambridge den Posten als Premier-Minister abzujagen. Sowohl Johnson als auch Farage versprachen den Briten das "Blaue vom Himmel", erinnerten an die glorreichen Zeiten, als UK noch eine Weltmacht war und erklärten frech, außerhalb der EU im Verbund mit den USA würden goldene Zeiten anbrechen. Wie die Wahlanalysen zeigen, ist dies bei der ärmeren, ländlichen, älteren Bevölkerung auf offene Ohren gestoßen, denn sie sind es, die mehrheitlich für den Ausstieg gestimmt haben. 

Interessant ist dabei, dass gerade in diesen Gegenden mit dieser Bevölkerungsstruktur, die Hilfen aus Brüssel am größten sind. Da wird es wohl später ein böses Erwachen geben, wenn in diesen strukturschwachen Regionen die Unterstützung der EU wegfällt und das Mutterland nicht in der Lage sein wird, diese zu ersetzen. Die Bevölkerungen in den Ballungsgebieten und speziell in der City of London, dem Finanzzentrum haben die Menschen mit über 70% für den Verbleib gestimmt, ebenso die jungen Menschen landesweit, für die Europa schon lange eine Realität war, konnten sie doch problemlos reisen und in allen europäischen Ländern einen Job annehmen. Sie sind jetzt völlig verunsichert, sie wollen auf keinen Fall die EU verlassen. Großbritannien ist gespalten zwischen Jung und Alt, zwischen Stadt und Land und zwischen gut und weniger gut Ausgebildeten. 

Zudem herrscht eine große Unsicherheit über das was kommt, wenn das Königreich von Europa isoliert sein wird. Die Brexit-Leute haben damit geworben, dass das Land weiterhin alle Vorteile aus Brüssel bekommen wird, ohne jedoch die bisherigen Verpflichtungen weiterhin leisten zu müssen. Dies stellt die eigentliche Verdummung dar, denn damit wird sich Brüssel niemals einverstanden erklären und dies war auch klar abzusehen. Da waren Rattenfänger am Werk und ihre Pfeifen haben Wirkung gezeigt. 

Tatsächlich war die Brexit-Kampagne eine Schlammschlacht. Noch niemals im Königreich hat es eine solche gegenseitige Verunglimpfung und Beleidigung der Politiker gegeben. Parallel dazu stieg die Feindlichkeit gegenüber Ausländern, speziell aus den östlichen EU-Staaten, aber auch vermehrt gegenüber Menschen aus der gesamten EU. Der Rechtsradikalismus hat mit dem extremen Auftrieb von Ukip verstärkte Formen angenommen. Ihr politischer Ausdruck findet schon jetzt im Europäischen Parlament statt, wo die rechtsradikalen Parteien Europas, wie Ukip, Front National aus Frankreich, AfD aus Deutschland, FPÖ aus Österreich, Geert Wilders mit seinen niederländischen Rechtspopulisten "Partij voor de Vrijheid", aber auch in Finnland, Dänemark, Polen, Ungarn und in der Slowakei verstärkt auftreten, mit dem Ziel Europa zu spalten und alle Macht an die National- Staaten zurück zu geben. 

Bei einem kürzlich abgehalten Treffen dieser Rechtsradikalen in Wien wurde offen über ein anderes gemeinsames Europa gesprochen, einem totalitären, abgeschotteten Europa, das von diktatorischen Strukturen geprägt ist, und "wo das vollendet wird, was die Nazis früher nicht geschafft haben"(Originalton). 

Das Ergebnis von Brexit hat diesen Kräften europaweit Auftrieb gegeben, schon wollen andere Länder diesem Beispiel folgen, wenn in Ungarn eine Volksbefragung über die Flüchtlingsquote im Herbst abgehalten werden soll. Ziel ist es die parlamentarische Demokratie zu unterlaufen, lassen sich doch so viel erfolgreicher mit der beeinflussbaren Stimmung der Bevölkerung rechtsradikale nationalistische Ziele durchsetzen. Nicht umsonst haben die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes auf die parlamentarische Demokratie bei der Führung unseres Landes gesetzt, sind es doch die gewählten Volksvertreter in den Parlamenten die die Macht ausüben und nicht Regierungshandeln mit Hilfe einer unmittelbaren Volksbefragung, die jegliche Manipulation zulässt, so wie jetzt beim Brexit in Großbritannien. 

Um ein erstes Fazit bezüglich UK zu ziehen, ist folgendes festzustellen. Die Briten haben mehrheitlich den Austritt aus der EU beschlossen, nachdem es eigentlich zunächst um eine inner-britische Machtauseinandersetzung gegangen ist, Cameron seinen nächsten Wahlsieg durch Ukip gefährdet sah und sein parteilicher Widersacher Johnson auf das Brexit-Vehikel aufsprang. Keiner hat mit dem Schlamassel gerechnet, als sie die Büchse der Pandora geöffnet haben. Jeder hat nur seinen eigenen Vorteil im Auge gehabt, Cameron seine Wiederwahl, Johnson seine Wahl zum Premier und Farage einen fulminanten Einstieg ins Unterhaus bei den nächsten Wahlen.

Als Ergebnis haben sie bekommen: Den Austritt aus der EU mit dem Verlust der massiven Vergünstigungen, eine gespaltene Bevölkerung, die führenden Parteien Labour und Konservative, die sich innerlich zersetzen und äußerlich tragische Verluste einstecken müssen. Zudem ein Ausstiegsprozedere, von dem niemand weiß, wie es zustande kommt, und mit welchem Ergebnis, zumal GB noch nicht einmal genügend qualifizierte Beamte besitzt, um den Ausstieg fachgerecht zu verhandeln. Und wenn es dann noch ganz dick kommt, einhergehend mit der Spaltung des Königreiches, denn weder die Schotten noch die Nordiren, ja selbst die Einwohner von Gibraltar auf ihrem Affenfelsen, ebenfalls Briten, wollen die EU verlassen, drohen ihnen doch so massive wirtschaftliche Einbußen, sodass sie als europäischer Stadtstaat für sich weitaus größere Chancen sehen. 

Da ist es auch kein Trost, dass das Referendum keine bindende Kraft für die mehrheitlich pro europäischen Abgeordneten darstellt, denn wer glaubt schon, dass eine britische Regierung, aus welchem Lager auch immer das Ergebnis der Abstimmung ignorieren wird. Welch eine unübersichtliche Gemengelage und dazu noch die Rechtsradikalen in vielen europäischen Ländern. Die Wirtschaft ist verunsichert, in Großbritannien sowieso, galt doch für viele internationale Firmen Uk als Sprungbrett in die Europäische Union. Große Unternehmen machen sich ernsthaft Gedanken ihren Firmensitz in die EU zu verlegen und dies gilt nicht nur für Großunternehmen aus den USA und Fernost, sondern selbst britische Global Players liebäugeln damit,  auf den Kontinent zu verlagern. Und dies alles wegen persönlichem Machtgebaren, welch ein Versagen der britischen Politik und ihren Politikern. 

Aber es sind nicht die Briten allein, die für das Chaos in Europa verantwortlich sind. Ein wesentlicher Punkt für den Niedergang der europäischen Idee, die zweifellos bei den Menschen noch immer überwiegend vorhanden ist, liegt im Versagen der Umsetzung auf bürokratischer Ebene. Solange es kein Vereintes Europa mit gemeinsam gewählten Vertretern gibt, die insgesamt über dieses Staatsgebilde entscheiden, macht es keinen Sinn ein solches verquastes System zu intensivieren, bei dem kein Mensch, zumindest kein normaler Bürger durchblickt, mit aufgeblähten Institutionen, die Milliarden verschlingen und nahezu ineffizient sind, weil sie sich nicht um die wesentlichen Dinge kümmern, wie Sicherheit, Umweltschutz, Arbeitsplätze, gemeinsame Außenpolitik, auch gemeinsames militärisches Handeln, anstatt dessen Normen für Gurken, Glühlampen und Reißverschlüsse bestimmen. 

So haben sich die Menschen in den europäischen Ländern die Europäische Union nicht vorgestellt. Hinzu kommt der nationale Egoismus, der dazu geführt hat, dass man letztendlich die EU als Melkkuh gesehen hat, die man nach allen Kräften ausbeutet, ohne dabei den eigentlichen Wert der Gemeinschaft zu erkennen. Zudem fehlt der innere Zusammenhalt, dessen Mangel dann zutage kommt wie z.B. bei der Flüchtlingsfrage. Alles zusammen zeigt, dass jetzt nichts wichtiger ist, als die EU zu reformieren, soll sie doch noch zum Erfolg geführt werden.

Und dass dieser Erfolg für uns alle bitter notwendig ist, sagt uns nicht nur unser Verstand, vielmehr werden wir durch die Globalisierung, den weltweiten Terrorismus und den Klimawandel und viele andere veränderten Bedingungen geradezu verpflichtet, gemeinsam zu handeln, in Europa aber auch weltweit. Wie fragil, wie vernetzt, wie verwundbar unsere humane Gesellschaft ist, wird sofort klar, wenn man die Bilder der Erde aus der Europäischen Raumfahrt-Station sieht. 

Es wird höchste Zeit, dass wir begreifen, nur als globale Gemeinschaft auf Dauer eine Chance zu haben. Bevor jedoch dieses ferne Ziel Wirklichkeit werden kann, werden wir mit einer funktionierenden Gemeinschaft in Europa anfangen müssen. Die Europäische Union in ihrer jetzigen Form und noch viel weniger der Brexit in Großbritannien sind geeignet, dazu wirklich ein leuchtendes Beispiel zu geben. 

 Peter J. König